Humboldt-Universität zu Berlin - Institut für Slawistik und Hungarologie - Ungarische Literatur und Kultur

Sprachbegriffe und Medienbegriffe

Tagung am 3./4. November 2016

„Niemals wird (…) der Begriff der Technik ohne weiteres den Begriff der Schrift erhellen können“ – so ein Diktum Derridas in der Grammatologie. Es scheint angesichts der kulturtechnischen wie medienhistorischen und -theoretischen Überflutung der literaturwissenschaftlichen Diskurse so, als ob diese und weitere Thesen der Dekonstruktion obsolet geworden wären, als ob der Sprach- und Schriftbegriff von Derrida und anderen noch zu sehr an einer sprachlichen oder zeichentheoretischen Immanenz orientiert wäre. Dabei ist das Verhältnis auch in diesem Zitat merklich anders: technische Medialität gehört zur écriture dazu, kann von ihr nicht losgelöst werden, dennoch vermag sie die Schrift und ihre Effekte nicht zur Gänze zu erklären (und nicht umgekehrt).

Es gälte daher, die Optik teilweise umzukehren und danach fragen, ob die medientheoretischen Ansätze und Positionen in jedem Fall der Sprache und ihrem rhetorischen, inskriptionellen wie performativen Charakter entsprechen oder gerecht werden können. Hier soll das Augenmerk vor allem auf die Arbitrarität der Sprache gelegt werden, die in der Argumentation Derridas dafür verantwortlich ist, dass sie auch immer schon Schrift, von dieser affiziert ist. An diesem Punkt setzten auch mehrere medientheoretische Diskurse ein und haben mit Hinweis auf das Arbiträre (vgl. Begriffe wie „Rauschen“, „Störung“, „Opazität“) der traditionell verstandenen Sprachlichkeit den Boden zu entziehen versucht. Man könnte im Rückgriff auf ein weiteres, möglicherweise enigmatisches Konzept Derridas sagen, die starke Technisierung und Medialisierung des Sprachlichen sei ein Effekt oder eine Ausbreitung des „Unmotiviert-Werdens“ der Spur bzw. des Zeichens, sofern ihr Spielraum erst von diesem Ereignis eröffnet wird. Technomediale Dispositive arbeiten immer schon an diesem Unmotiviert-Werden der Spur oder des Zeichens, was nur möglich sein kann, da „es keine unmotivierte Spur gibt“ und „die Unmotiviertheit der Spur immer schon geworden ist“ (ebd.). Medientheoretische Positionen speisen sich, wenn oft auch nur unbewusst, aus dem Unmotiviert-Werden und polarisieren dieses – jedoch aufgrund derselben formalen Logik – in zwei Paradigmen einerseits der „Störung“ (und ihrer Äquivalenten), also grob gesagt der „Unmotiviertheit“, andererseits der „Präsenz“ (und ihrer Synonyme), d.h. allgemein: der (performanztheoretischen) Motivierung.

Die Verschiebung der Perspektive von der Leistung der Einzelmedien zur Leistung der Sprache kann uns eine triviale, aber umso folgenreiche Tatsache vor Augen führen: Medientheoretische Begriffe bezeichnen keine im Voraus gegebenen oder bereits vorliegenden Objekte, die unabhängig vom Akt der Bezeichnung vorhanden sind, sondern sind selbst Produkte von (Neu-)Interpretationen und somit konstitutive Bestandteile einer Begriffs-, Wissenschafts- oder Denkgeschichte. Dies kann unter anderem auf zwei symptomatische Merkmale dieser Begrifflichkeit aufmerksam machen. Sprach- und Medienbegriffe zeichnen sich durch eine – zwar häufig registrierte, jedoch selten analysierte – Doppeldeutigkeit und einen damit eng verbundenen Widerstand gegen die Fixierung ihres Sinnes aus. Im Spannungsfeld von Sprach- und Medientheorie zeigen sich Begriffe wie „Code“, „Materialität“ oder „Performativität“ als Homonyme, die sich nicht unmittelbar vom einen auf den anderen Bereich übertragen lassen. Diese eigenartige und jeweils unvermeidliche Spaltung und Verdoppelung wirft Fragen auf, die über die bloßen Definitionsprobleme dieser Begriffe weit hinausgehen: Woran liegt ihre scheinbar unbegrenzte Flexibilität? Warum lässt sie sich widersprüchlich bewerten und gleichzeitig mit unterschiedlichem Vorzeichen versehen, indem man sie sowohl als metaphorische Ausdehnung als auch als metonymische Verschiebung deuten und somit sowohl auf die Kontinuität als auch auf die Inkompatibilität der verschiedenen Anwendungsbereiche schließen kann?

Die Tagung setzt sich zum Ziel, solche Begriffe – analytisch, systematisch, historisch – zu thematisieren, die „Schnittstellen“ zwischen Sprach- und Medienbegriffen, Sprach- und Medientheorien markieren können. Dieses Vorhaben könnte eventuell die Unverzichtbarkeit gewisser Begriffe und Konzepte für beide Felder aufzeigen, wenn auch nicht in identischer Weise. Begriffe wie „überlieferte Sprache und technische Sprache“ (Heidegger), „Zeichen“, „Code“, „Information“, „Adresse“, „Differenz“, „Rauschen“, „Transposition“, „Rhythmus“, „Fiktion“, „Simulation“, „Hardware“, „Rekurrenz“ und andere könnten – zwischen begriffsgeschichtlichen und systematischen Annäherungen – aufgegriffen und ihre wechselseitige Übersetzbarkeit zwischen Sprachen und Medien erprobt werden (auch der Begriff der „Übersetzung“ und seiner medienhistorischen und -theoretischen Pendants). Man könnte durch die Transposition etwa medientechnologischer Begriffe der genuinen Medialität der Sprache näherkommen.