Geschichte
Die Geschichte des heutigen Fachgebiets Ungarische Literatur und Kultur an der Humboldt-Universität, das seit 1968 administrativ zum Institut für Slawistik gehört, begann 1916, mitten im ersten Weltkrieg; die Vermittlung ungarischer Kultur und Wissenschaft in Deutschland reicht jedoch bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurück. Aus dieser Zeit stammt auch der Grundstock der mit ca. 60.000 Bänden umfangreichsten finnougristischen Fachbibliothek Deutschlands, die heute zur Teilbibliothek Fremdsprachliche Philologien im August-Boeckh-Haus gehört.
Begründer der hungarologischen Lehre und Forschung an der Berliner Universität war der Wissenschaftler und Wissenschaftsorganisator Robert Gragger. Deutsch-ungarischer Abstammung und damit geistig in beiden Kulturen verwurzelt, hatte er sich schon als Student an der Budapester Universität mit Untersuchungen zu den Wechselwirkungen in der Weltliteratur befasst und später, auch unter dem Eindruck eines fünfmonatigen Studienaufenthalts in Berlin (1910/11), verstärkt komparatistischen Forschungen über die Beziehungen und typologischen Parallelitäten der deutschen und ungarischen Kultur zugewandt. Der Vermittlung und Erforschung europäischer kultureller Werte und Wechselwirkungen war schließlich das letzte und produktivste Lebensjahrzehnt Graggers nach der Gründung des Ungarischen Seminars an der Berliner Universität gewidmet.
Das ursprünglich rein philologisch ausgerichtete Seminar wurde im November 1917 in den Rang eines Instituts erhoben, das sich auf Anregung des preußischen Kultusministers C.H. Becker in Lehre und Forschung schon bald einem erweiterten Hungarologie-Begriff verschrieb: Einbezogen wurden nun auch die Geschichte, Rechtswissenschaft, Volkswirtschaft, Kunstgeschichte und Volkskunde Ungarns. Mitte der zwanziger Jahre umfassten Bibliothek und Veröffentlichungen des Ungarischen Instituts bereits das Gebiet der gesamten finnougrischen Philologie.
Nach Graggers Tod 1926 leitete ab Anfang 1928 Julius von Farkas das Institut, bis er 1945 Berlin verließ, um sich als Gründungsprofessor in Göttingen der finnougrischen Sprachwissenschaft zu widmen.
1946 nahm das Institut seine wissenschaftliche Tätigkeit als Finnisch-Ugrisches Institut unter der Leitung des Sprachwissenschaftlers und Volkskundlers Wolfgang Steinitz wieder auf. Der erste Studienplan für Finnougristik mit den Schwerpunkten Hungarologie oder Fennistik datiert von 1947. Im Wintersemester 1947/48 begann Béla Szent-Iványi seine Vorlesungen zur ungarischen Sprache und Literatur. Ein besonderes Verdienst von ihm, wie auch das seines Schülers Paul Kárpáti, der das Seminar für Hungarologie bis 1996 verwaltete, war die Vermittlung der ungarischen Literatur über den Rahmen von Lehre und Forschung hinaus: Beide haben auch als Übersetzer und/oder Herausgeber ungarischer Literatur und mit reger Öffentlichkeitsarbeit das Ideal einer angewandten Hungarologie im Sinne Graggers vorgelebt. Von 1968 bis 1997 wurden am Berliner Seminar für Hungarologie – und in ganz Deutschland nur hier – Übersetzer und Dolmetscher für Ungarisch ausgebildet.
Nach wechselnden sprach- oder literaturwissenschaftlich akzentuierten Gastprofessuren zwischen 1973 und 1993 (mit Andor Tarnai, László Tarnói) stand dem Seminar mit Ernő Kulcsár-Szabó von 1996 bis 2005 wieder ein ordentlicher C4-Professor vor, der den wissenschaftlichen Aspekt der universitären Tätigkeit in den Vordergrund stellte und hierbei den Schwerpunkt auf die Literaturwissenschaft legte. Kulcsár-Szabó verschrieb sich einer systematisch-wirkungsgeschichtlich orientierten, dichtungsgeschichtlich und poetologisch ausgerichteten sowie kulturwissenschaftlich und medialitätstheoretisch fundierten Literaturwissenschaft, deren Kontinuität am Lehrstuhl bis heute bewahrt und weitergeführt wird. In die Zeit von Kulcsár-Szabó fielen auch die Anfänge einer erneuten Umgestaltung der Studiengänge: Die letzte Immatrikulation für Magisterstudierende fand 2003 statt. Nach mehreren – nunmehr literaturwissenschaftlich akzentuierten – Vertretungsprofessuren zwischen 2005 und 2008 wurde 2009 Csongor Lőrincz zum Professor berufen, und der Bachelor-Studiengang konnte aufgenommen werden. Nach einer Denominationsänderung heißt das Fach heute „Ungarische Literatur und Kultur“, ebenso wie der hungarologische BA-Studiengang, der hier besucht werden kann. Darüber hinaus ist das Fachgebiet auch an den komparatistischen Masterstudiengängen „Kulturen und Literaturen Mittel- und Osteuropas“ und „Europäische Literaturen“ beteiligt.